Special: Simon Boccanegra
Die Wiedergeburt einer Oper
Man schrieb das Jahr 1879. Giuseppe Verdi, zu dem Zeitpunkt bereits der meistverehrte lebende italienische Opernkomponist, hatte sich nach dem Triumph seiner Grand Opéra Aida von 1871 auf seinen Landsitz in einem beschaulichen Dörfchen nahe Parma, Italien, zurückgezogen. Er war 65 Jahre alt, wohlhabend und berühmt, seine Opern wurden in aller Welt gespielt – tatsächlich gehörten einige Arbeiten, etwa das berühmte Trio aus Rigoletto, La traviata und Il trovatore, zu den am häufigsten aufgeführten an den wichtigsten Opernhäusern. Dennoch war er der mühevollen, oftmals frustrierenden Herausforderungen, die die Arbeit mit Theatermanagements mit sich brachte, sowie der vielen Probleme, die sich ergaben, wenn er sicherstellen wollte, dass Casting und Inszenierung seinen kompromisslos hohen Ansprüchen gerecht wurden, überdrüssig geworden. Im Jahr 1873 hatte er ein Streichquartett komponiert und 1874 ein hervorragendes Requiem zu Ehren des jüngst verstorbenen Schriftstellers Alessandro Manzoni. Allerdings war seine Arbeit, was die Opernkomposition betraf, seiner Meinung nach abgeschlossen.
Doch dann kam Giulio Ricordi. Der Enkel des Gründers des Mailänder Verlagshauses, das sich bis zur Jahrhundertmitte als führender italienischer Musikverlag etabliert hatte, hatte nur wenige Jahre vor der Aida-Premiere angefangen, für das Unternehmen zu arbeiten. Seinerzeit hatten sein Großvater Giovanni und sein Vater Tito die Karrieren vieler großer, von ihrem Hause verlegter Komponisten eng begleitet, während diese neue Opern schufen – unsterbliche Genies wie Rossini, Bellini, Donizetti und, natürlich, Verdi. Insgeheim hoffte Giulio darauf, den Altmeister der Oper (als der Verdi schon zu Lebzeiten gemeinhin galt) überreden zu können, aus dem Ruhestand zurückzukehren, und zwar mit einem ganz neuen Werk. Wie wir heute wissen, sollte seine kundige und diplomatische Überzeugungsarbeit Verdi am Ende dazu inspirieren, mit Arrigo Boito gemeinsam die späten Meisterwerke Otello (1887) und Falstaff (1893) zu erschaffen. Doch um solcherart hochfliegende Resultate zu erzielen, musste er vorsichtig und in kleinen Schritten vorgehen, vielleicht indem er etwas weniger „Gewaltiges“ vorschlug; eben wie die Revision einer alten Arbeit, die noch nicht ganz den Erfolg erzielt hatte, die dem Komponisten vorgeschwebt hatte. Giulio hatte genau solch ein Projekt im Kopf, von dem er sicher war, dass es das Interesse des Komponisten wecken würde: Simon Boccanegra.
1857: Die erste Fassung
Uraufgeführt 1857, war die erste Fassung von Boccanegra eine ambitionierte Oper mit wundervollen dramatischen Momenten und vorzüglicher Musik. Gleichwohl war ihr kein Erfolg beschieden – tatsächlich war sie, wie Verdi unumwunden bemerkte, ein „Fiasko“. Einige Reporter schrieben die Schuld einer dicht konstruierten, zu komplizierten Handlung zu, die als ein „undurchdringliches, verzwicktes Labyrinth“ bezeichnet wurde. Und obwohl ein weitsichtiger Kritiker die komplexe Arbeit als „Meisterwerk“ anerkannte, erlebte die erste Version von Boccanegra nur wenige weitere Produktionen, darunter eine desaströs schlechte Inszenierung im Jahr 1859 in der Scala, die den Komponisten erzürnte. Danach verstaubte die Oper in den Regalen der Musikverleger. Gleichwohl betonte Verdi, dass Boccanegra „nicht schlechter ist als viele andere meiner Opern, denen allerdings wesentlich glücklicheres Geschick zuteilwurde“, wie er an Tito Ricordi schrieb, „doch sie erfordert eine größere Bereitschaft des Publikums, zuzuhören“: eine Bereitschaft, genauer gesagt, ihre innovativen Elemente wertzuschätzen. Giulio war überzeugt: Eine Überarbeitung dieses missverstandenen Werkes war das ideale Projekt, um Verdi aus dem Ruhestand hervorzulocken.
Überzeugungsarbeit
Giulios „diplomatische Mission“ begann, als er Verdi bereits dazu angeregt hatte, mit dem Librettisten Arrigo Boiti an Otello zu arbeiten. Über den Umweg, irgendeine Zusammenarbeit der beiden Männer anzustoßen, hatte Giulio beiläufig eine Überarbeitung der älteren Oper angesprochen und ohne weitere Rücksprache die Partitur an Verdi geschickt, worauf der Komponist die berühmt gewordene Antwort gab:
"Gestern erhielt ich ein großes Paket, in dem, wie ich annehme, die Partitur des Simon steckt ... Sie können in sechs Monaten wiederkommen oder in einem Jahr, oder auch in zwei oder drei, Sie werden das Paket ungeöffnet vorfinden. Wie ich Ihnen bereits sagte: Ich hasse unnütze Dinge [...] lieber beende ich meine Karriere mit Aida und der Messa als mit irgendeiner Überarbeitung."
Dennoch: Die Saat war gelegt, Verdis kreativer Geist geweckt, und Komponist und Librettist sollten bald ernsthaft mit der Arbeit beginnen. Librettist der Originalversion von Boccanegra war Francesco Maria Piave, der von Historikern nicht immer wohlwollend behandelt wurde, da sie in ihm wenig mehr als einen Handwerksgesellen der Reimkunst sahen. Selbst von Zeitgenossen wurde er in einer Karikatur verspottet, in der er – wie ein Metzger, der Scheibe für Scheibe von einer endlos langen Wurst abschneidet – ein Libretto nach dem anderen produziert; eine Referenz an seinen (vielleicht übermäßigen) produktiven Output. Eine eingehende Untersuchung seiner Libretti hingegen offenbart eine Wortkunst von großer Sensibilität und oftmals hoher Qualität. Das Problem der ersten Version von Boccanegra lag prinzipiell eher in der Struktur, die Verdi selbst erstellt hatte, und zwar mithilfe eines weiteren Poeten, Giuseppe Montanelli, und von der er verlangte, dass Piave sich daran hielt. Dennoch: So begabt der 1876 verstorbene Piave als „Opern-Poet“ auch gewesen sein mochte, Arrigo Boito war gegen ihn ein kreativer Künstler mit echtem literarischem Genie.
Die Überarbeitungen erwiesen sich als umfangreicher, als Verdi zunächst erwartet hatte. Obwohl er ursprünglich an Giulio geschrieben hatte, „für Boccanegra sollten wir keine komplizierte Überarbeitung anstreben; lieber lassen wir alles, wie es ist, und überarbeiten lediglich das Finale“, änderten er und Boito schließlich ein Duett und gestalteten das Ende des 1. Akts komplett um, zudem wurden vier Szenen am Ende des 3. Akts umfangreich bearbeitet.
1881: Die zweite Fassung
Für die Premiere der zweiten Fassung von Boccanegra 1881 in der Scala wurde erwartungsgemäß große Sorgfalt auf die Qualität der Produktion selbst gelegt. Hier waren Komponist, Librettist und Verleger allesamt eng eingebunden. Eine Fülle von Briefen zwischen den dreien, und besonders zwischen Verdi und Ricordi, dokumentiert die Akribie, mit der Kostüme und Szenenbilder diskutiert wurden, ebenso technische Details wie die komplizierte Beleuchtung der Szene „Beleuchteter Hafen“ im 3. Akt. Die Kostüme wurden entworfen von Alfredo Edel, der damals erst 25 Jahre alt war und am Anfang einer ruhmreichen Karriere stand; seine 46 Designs für Boccanegra wurden sämtlich im Archivio Storico Ricordi in Mailand aufbewahrt. Die Bühnenbilder stammten von Girolamo Magnani, der seine Laufbahn fast ein halbes Jahrhundert zuvor begonnen und in ganz Europa gearbeitet hatte, unter anderem für eine beträchtliche Anzahl von Verdi-Produktionen, nicht zuletzt für die Premiere von Aida in der Scala.
Obgleich Giulio Ricordis Rolle als hartnäckiger und diplomatischer Mediator zwischen Komponist und Librettist entscheidend dafür gewesen war, dass die Revision überhaupt in Angriff genommen und erfolgreich abgeschlossen wurde, ging sein Engagement in diesem Projekt sogar noch weiter. Er unternahm auf eigene Faust historische Recherchen, um sicherzustellen, dass die Bühnenbilder und Kostüme die dargestellte Zeit korrekt widerspiegelten (er reiste dafür sogar nach Genua, dem Ort der Handlung), und übernahm persönlich die Zusammenstellung und Veröffentlichung der disposizione scenica – eines detaillierten, 60-seitigen „Produktionsbuches“, in dem die wichtigsten Aspekte der Bühnenchoreografie für die Solisten, den Chor und die Statisten enthalten waren, außerdem spezifische Einzelheiten des Bühnenbilds, der Kostüme und anderer Inszenierungsfragen, ferner zahlreiche Abbildungen, die das Werk so illustrierten, „wie es [bei der Premiere 1881] im Teatro alla Scala inszeniert wurde“. Dieses akribisch zusammengestellte Dokument sollte dazu dienen, dass künftige Produktionen von Boccanegra immer in der gleichen professionellen Qualität inszeniert werden konnten.
Die Aufführungen der zweiten Fassung von Simon Boccanegra 1881 ernteten den Erfolg, der dieser hervorragenden Oper 24 Jahre vorher vorenthalten geblieben war. Verdi war mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und sein Verleger ebenso. Doch genauso bedeutsam war es, dass diese Überarbeitung den Boden bereitete für die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Verdi, Boito und Ricordi, die noch folgen sollte und die großen späten Meisterwerke des Komponisten hervorbringen würde.
— Gabriele Dotto
Termine
09.12.2015 | 19.30 Uhr Theater Osnabrück in Kalender importieren |
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25.12.2015 | 19.30 Uhr Theater Osnabrück in Kalender importieren |
04.02.2016 | 19.30 Uhr Theater Osnabrück in Kalender importieren |