News | Gütersloh, 05.11.2024

„Wenn sich das Leben ins Foto einmischt“

Er sei „kein Künstler, sondern eigentlich Zeuge“. Und er gehört zweifelsohne zu den bekanntesten Fotografen der Welt: Jim Rakete. Es gibt kaum einen Kanzler, eine Schauspielerin oder einen Musiker, den bzw. die er in den vergangenen Jahrzehnten nicht fotografiert hätte. Und jetzt hat ebendieser Jim Rakete Bertelsmann fotografiert – oder besser das, was Bertelsmann, das er seit vielen Jahren kennt und begleitet, für ihn alles ist. Dazu hat er „eine eigene Bildsprache für das Corporate Center in Gütersloh gefunden“ und sie in 23 situativen Schwarz-Weiß-Fotografien festgehalten. Raketes Arbeiten, jede von ihnen 100 mal 140 Zentimeter groß, sorgen seit November 2024 im Treppenhaus und in den Konferenzzonen des Gebäudes für ein frisches, modernes und kreatives Ambiente. Über den Weg dorthin spricht der Fotograf im Interview.

Bertelsmann und Jim Rakete – das ist eine lange Verbindung. Wie ging es los?

Vor sehr vielen Jahren war ich mal im Schallplatten-Presswerk von Sonopress in Gütersloh. Das war meine erste Berührung mit Bertelsmann. Ich bin als Fotograf ja gerade in der Musikszene fest verankert. Ich habe mit vielen der ganz Großen arbeiten dürfen, von Karajan bis Bowie. Bei Sonopress konnte ich dann erleben, was für eine gut geölte Maschinerie an den kreativen Prozess anschloss – wie aus deren Musik Schallplatten wurden, wie sie verpackt und verschickt wurden, wie sie zu den vielen Millionen Fans kamen.

… und daraus wurde später mehr?

Ja. Als Thomas Rabe, ein Kenner und Freund guter Fotografie, Vorstandsvorsitzender wurde, habe ich einen seiner ersten Geschäftsberichte bebildert und seine strategischen Vorstellungen für den Konzern visuell in Fotografien umgesetzt. Hinzu kamen im Laufe der Zeit Fotos der Vorstände oder von Liz Mohn. Es waren immer wieder schöne und kreative Aufträge.

Bis dann Karin Schlautmann, Leiterin der Unternehmenskommunikation, vor einigen Monaten mit der Bitte auf Sie zukam, zu fotografieren, was Bertelsmann für Sie alles ist.

Ich erinnere mich gut an den Beginn unserer wunderbaren Zusammenarbeit und an den Auftrag, der mir auf den ersten Blick unglaublich erschien: Ob ich mir vorstellen könne, dem Corporate Center eine neue Bildsprache zu geben? So etwas fragt man normalerweise einen Innenarchitekten oder einen Galeristen, zumal es sich um ein gestalterisch nicht einfaches Gebäude handelt. Aber sie hat mich gefragt. Und ich habe mich wirklich sehr gefreut.

Warum?

Bertelsmann folgt aktuell dem Slogan „Das alles ist Bertelsmann“. Und ich sollte nun zeigen, was Bertelsmann für mich ist. Ohne Vorgaben. Solche Aufträge machen wirklich Spaß …

Vor allem, wenn sie mit einer Reise um die halbe Welt verbunden sind.

Einen Weltkonzern kann man weder in einem Studio angemessen abbilden noch allein an seinem Stammsitz. Wer Bertelsmann erleben will, muss raus in die Welt. Und so waren wir für die Shootings in New York, Los Angeles, Paris, Riga, Köln und Berlin – aber natürlich auch in Gütersloh. Bertelsmann ist überall.

Welche Motive haben Sie dort eingefangen, um Bertelsmann aus Ihrer Sicht zu erzählen?

„Eingefangen“ trifft das, was wir gemacht haben, nicht wirklich. Wir haben uns im Vorfeld sehr viele Gedanken über jedes der 23 Motive gemacht und erste Probeaufnahmen gestartet. Zug um Zug ist eine Reihe von Fotografien entstanden, die Bertelsmann in seiner ganzen Vielfalt zeigen: den Dreh für eine „Sisi“-Folge für RTL, eine Sportreportage von den Paralympics, eine Leserin in der U-Bahn, Club-Musiker am Sunset Strip, Szenen aus dem Probenraum einer Band, virtuell lernende Krankenpflegerinnen, die legendären Schwäne auf dem Teich vor dem Corporate Center … und übrigens auch die Renaissance der Vinyl-Produktion bei Sonopress. Da hat sich für mich ein Kreis geschlossen.

… in dem Sie „Das alles ist Bertelsmann“ persönlich wie erlebt haben?

Kaum zu glauben, dass das Herz dieses Konzerns im beschaulichen Gütersloh schlägt und man seinen Puls in jeder Metropole fühlen kann. Schwierig war es eher, aus den unterschiedlichen Unternehmensbereichen Szenisches zu finden, das prägnant ist für die Arbeitskultur und das Lebensgefühl von Mitarbeitern und Nutzern.

Sie sprachen von einem genauen Konzept hinter den Fotos und der Ausstellung. Wie sieht dieses Konzept aus?

Die Fotos zeigen Menschen in einem entscheidenden Moment. Wäre das Leben ein Film, würden wir diesen Moment „Plot Point“ nennen. Nach ihm wird vieles anders sein. Wie auch immer wir diesen Augenblick nennen wollen – Fotografie kann ihn am besten aufbewahren. Einstein soll seine Relativitätstheorie auf dem Fahrrad eingefallen sein. Das Foto dazu hätte ich sehr gern gemacht.

Und was macht einen Auftrag für einen Jim Rakete generell spannend?

Also, worüber ich stundenlang grübeln kann, ist die Frage, ob und wie man Dinge vereinfachen könnte. Ich habe festgestellt, dass in der gesamten Kommunikation, also auch in der Fotografie, die Vereinfachung eine gewisse Eleganz hat, wie es Gordon Willis, der berühmte Kameramann, mal ausdrückte. Es geht um die Prägnanz, dafür muss es relativ einfach sein. Es muss eine bestechende Idee geben. Das gilt für jedes Bild, auch für meinen Bertelsmann-Zyklus.

A propos einfach – gilt das auch für die Bedingungen bei den Shootings?

Im Prinzip ja, wenn man bereit ist zu akzeptieren, dass das Leben sich in die Bilder einmischt.

Was heißt das?

Als wir in Riga das RTL-Motiv bei den Dreharbeiten zu „Sisi“ aufgenommen haben, hatten wir uns vorher die Einstellungen genau überlegt. Und dann, im entscheidenden Moment, rauscht ungeplant ein Tonmann mit seiner Mikrofon-Angel mitten durch das Bild. Da denkt man zuerst: Das kann nicht wahr sein. Alles noch mal. Aber das Gegenteil ist der Fall. Erst ein solcher Moment macht ein Bild authentisch, lebendig. Und diese entscheidenden Momente ziehen sich wie ein roter Faden durch den gesamten Bertelsmann-Zyklus. Mein Freund Peter Lindbergh konnte aus Bergen von Kontaktbögen in einer durchwachten Nacht mit der Lupe und mit dem Filzstift das eine Bild rausfiltern, das anders war als tausend andere Bilder, die er gemacht hatte. Das besser war, eben weil sich das Leben eingemischt hat – und sei es in Form eines Mikros an der Angel. Das alles bestätigt einmal mehr, dass Bilder einem immer entgegenkommen. Man darf ihnen nicht hinterherrennen.