Thomas Rabe zur Bedeutung der Kreativität im Zeitalter der Digitalisierung
In einem Gastbeitrag in der FAZ erläutert der Bertelsmann-CEO seine Überzeugung, dass die Epoche der Digitalisierung „nicht die Epoche der Technologie, sondern die Epoche der Kreativität“ werde, und stellt eine neue Studie von Bertelsmann vor.
Tausende Menschen campieren nächtelang vor Kaufhäusern, um ein Smartphone der neuesten Generation zu ergattern. Der deutsche Justizminister legt einer Suchmaschine öffentlich nahe, ihren Algorithmus offenzulegen. Ein großer Online-Händler versieht Bücher von heute auf morgen mit ungewöhnlich langen Lieferfristen. Die Vermutung liegt nahe, Wirtschaft und Gesellschaft erlebten gerade den Beginn einer computerisierten Ära, in der sich die Kräfteverhältnisse von Mensch zu Maschine verschieben. Dem ist nicht so! Ich bin überzeugt: Die Epoche der Digitalisierung wird nicht die Epoche der Technologie, sondern die Epoche der Kreativität. Wir stehen am Anfang einer neuen Ära. Kein Produkt symbolisiert die digitale Allgegenwart so sehr wie das Mobiltelefon. Schon im nächsten Jahr wird es auf der Welt mehr Phones als Menschen geben.
Zum Vergleich: Am Tag, an dem es so weit ist, werden weltweit nur halb so viele Zahnbürsten im Gebrauch sein Smartphones - also internetfähige Minicomputer - sind die Symbiose aus allen technologischen Errungenschaften, die Milliarden von Konsumenten in den letzten zwei Jahrzehnten begeistert haben: Online-Zugang, Videoscreen, Spielekonsole, Suchmaschine, E-Reader, digitales Postfach, Tor zu sozialen Netzwerken, Tonträger, Messenger und vieles mehr. Und im Gegensatz zur Zahnbürste wird ein Smartphone am Tag nicht nur zwei- bis dreimal, sondern circa 150 Mal zur Hand genommen. Medienunternehmen haben die digitalen Vorboten früher zu spüren bekommen als andere Branchen. Das Innenleben von Häusern, Autos und Kühlschränken macht sich gerade erst auf den Weg dorthin, wo Fernsehsender, Bücher, Zeitschriften und Musik bereits anzutreffen sind: nämlich in die ununterbrochen miteinander vernetzte, datenbetriebene Online-Welt. Aber wie hat es Soshana Zuboff in dieser Zeitung am 15. September treffend formuliert: „Was eine Epoche ausmacht, ist mehr als ihre Technologie." Ich bin überzeugt: Die stärkste Triebfeder der kommenden Jahre wird kein Programm und kein Algorithmus sein - sondern der Mut und die Lust der Menschen, sich schöpferisch zu betätigen, sich künstlerisch zu verwirklichen und etwas Neues zu schaffen, das andere interessiert und inspiriert. Europa ist der Ort, der über Jahrhunderte eine unvergleichliche Vielfalt an solchen Künstlern, Autoren und Denkern hervorgebracht hat.
Als Europas größtes Medienunternehmen hat Bertelsmann zusammen mit Enders Analysis deshalb heute eine Studie veröffentlicht, die der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung von Kreativität im Zeitalter der Digitalisierung nachgeht. Untersucht wurden die europäischen Länder Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Die Ergebnisse dokumentieren nicht nur das große Bedürfnis der Menschen, sich kreativ zu betätigen - sondern auch die kulturelle und ökonomische Relevanz der Kreativwirtschaft. Demnach bezeichnen sich rund 70 Prozent aller Befragten als kreativ und gehen in ihrer Freizeit entsprechenden Tätigkeiten nach. Eine Hauptquelle ihrer Inspiration sind dabei die Medien. In Deutschland beispielsweise schauen Woche für Woche mehr als 90 Prozent fern und hören Musik, gut 70 Prozent nutzen das Internet, etwa zwei Drittel lesen Zeitschriften, und knapp jeder Zweite greift regelmäßig zum Buch. Deshalb ist es nur wenig verwunderlich, dass die Menschen den Wert der kreativ tätigen Unternehmen anerkennen: Hochgerechnet 100 Millionen der Erwachsenen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien beurteilen die Bedeutung der Kreativwirtschaft als „wichtig" oder „sehr wichtig". In den drei untersuchten Ländern arbeiten 3,3 Millionen Menschen für eines von 392.000 Unternehmen der Kreativbranche - ob als Drehbuchschreiber, Lektor, Journalist, Grafiker oder Toningenieur. Dies entspricht den Einwohnerzahlen von München, Birmingham und Marseille zusammen. Gemeinsam erwirtschaften die Unternehmen eine Bruttowertschöpfung von 128 Milliarden Euro im Jahr.
Die Kreativbranche leistet im Zeitalter der Digitalisierung einen erheblichen Beitrag zum kulturellen Reichtum und wirtschaftlichen Wohlstand Europas. Die künftige EU-Kommission hat erfreulicherweise signalisiert, dass sie diese Einschätzung teilt. Sie kann ihren Worten schon bald Taten folgen lassen. Zum Beispiel beim Schutz geistigen Eigentums: Europas Kreative verdienen ein modernes Urheberrecht, das sie auch im digitalen Zeitalter darin bestärkt, mutig zu sein und in neue Ideen zu investieren. Ihr Publikum wiederum hat einen berechtigten Anspruch, Filme, Texte und Songs in einer digitalen Welt auffinden zu können. Es muss dabei auf die Neutralität von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken vertrauen dürfen. Wir stehen am Anfang einer Epoche und haben die große Chance, ihren Verlauf aktiv mitzugestalten. Europa kann auch in einem Zeitalter allgemeiner Technologiegläubigkeit selbstbewusst genug sein, hierbei auf die Kraft der Kreativität zu setzen. Denn die Milliarden Smartphones sind nur eine Hülle, die mit kreativen Inhalten gefüllt werden muss.
(Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung 2014/09/23)
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