News | Berlin, 18.04.2024

„Manches ist auch für Puccini-Spezialisten neu“

In Berlin startete die von Bertelsmann organisierte Ausstellung „Opera Meets New Media“ zum Werk des berühmten, 1924 verstorbenen Komponisten Giacomo Puccini. Im Interview spricht Gabriele Dotto, Kurator der Ausstellung, über das Konzept, über die Bedeutung von Puccini für das heute zu Bertelsmann gehörende Archivio Ricordi und über den Umgang des italienischen Komponisten und des Musikverlags Ricordi mit den damals neuen Medien Schallplatte und Film.

Bertelsmann zeigt in seiner Berliner Repräsentanz Unter den Linden 1 die Ausstellung „Opera Meets New Media – Puccini, Ricordi und der Aufstieg der modernen Unterhaltungsindustrie“. Anhand von Originaldokumenten aus dem zu Bertelsmann gehörenden Archivio Storico Ricordi in Mailand und mit Hilfe multimedialer Elemente beleuchtet sie den Einfluss neuer Medien wie Tonträger und Film auf das Werk des berühmten Komponisten Giacomo Puccini (1858–1924) und die Arbeit des Musikverlags Ricordi. Im Interview spricht Gabriele Dotto, Forschungsdirektor am Archivio Storico Ricordi und Kurator der Ausstellung, über das Konzept, über die Bedeutung von Puccini für das Archivio Ricordi und die Opernwelt insgesamt und über den Umgang des Komponisten und des Musikverlags mit den damals neuen Medien Schallplatte und Film.

Herr Dotto, 2024 erinnert die Opernwelt an den 100. Todestag von Giacomo Puccini. Welche Bedeutung hat der Komponist aus Lucca heute noch für die Oper?

Puccini gehört bis heute, neben Mozart und Verdi, zu den drei am häufigsten aufgeführten Opernkomponisten. In diesem Jahr stehen weltweit 2.800 Aufführungen seiner Werke in insgesamt 970 Inszenierungen weltweit auf dem Programm. Während die Popularität anderer Komponisten kommt und geht, gehören die bekanntesten Puccini-Opern „Bohème“, „Tosca“, „Madama Butterfly“ und „Turandot“ seit nun einem Jahrhundert zum Kernbestand des Opernprogramms. „Kein Komponist spricht so unmittelbar zum Publikum wie Puccini“, wie der Musikhistoriker Julian Budden einmal geschrieben hat.

Das zu Bertelsmann gehörende Archivio Storico Ricordi gilt als das bedeutendste Opernarchiv der Welt in Privatbesitz. Welche Rolle spielt Puccini in diesem Archiv?

Puccini ist in den Beständen des Archivio Storico prominent vertreten. Zwar liegen dort zahlenmäßig mehr Partituren von anderen Autoren, die besonders viel komponiert haben – man denke nur an Giuseppe Verdi. Puccinis enger Austausch mit seinem Verleger, aber auch mit anderen Zeitgenossen aus der Musik- und Theaterwelt, hat aber dazu geführt, dass sich besonders viele Zeugnisse zu seinem Werk in den Beständen des Archivio Storico befinden. Puccinis Frühwerk entstand zu einer Zeit, als Ricordi als einer der größten Musikverlage der Zeit auch als „Impresario“ tätig war. Ricordi gab nicht nur Bühnen- und Kostümentwürfe in Auftrag, der Verlag arbeitete auch bei der Gestaltung des Librettos, wenn nicht sogar bei der Auswahl der Opernstoffe, eng mit dem Komponisten zusammen. Darüber hinaus rührte Ricordi auch aktiv die Werbetrommel für Puccini; zahlreiche Artikel in verlagseigenen, viel gelesenen Musikzeitschriften widmeten sich seinen aktuellen Arbeiten und Projekten. So kommt es, dass das Archivio Storico bis auf eine sämtliche Originalpartituren von Puccinis Opern besitzt, dazu Librettomanuskripte, Entwürfe für Requisiten, insgesamt 380 eigenhändige Schreiben des Komponisten, zusätzlich 300 weitere Briefe mit Werkbezug, und schließlich natürlich die fast 1.500 Briefe und Telegramme der Casa Ricordi an den Komponisten.  

Wie wichtig war der Musikverlag Casa Ricordi, aus dem später das Archivio hervorging, für Puccinis Erfolg?

Die Casa Ricordi war essenziell für Puccinis schon zu Lebzeiten außergewöhnlichen Grad an Bekanntheit und Beliebtheit. Natürlich hätte Puccinis geniales musikalisches Talent früher oder später seinen Werken den verdienten Erfolg beschert. Aber der Pfad der Musikgeschichte ist gepflastert mit den Namen von Komponisten, die zu Lebzeiten fast unbekannt waren und kaum je die Aufträge bekamen, die sie sich gewünscht hätten. Die beiden ersten Opern Puccinis, „Le Villi“ und „Edgar“, ließen zwar schon sein außergewöhnliches Talent erkennen, waren aber finanziell ein Misserfolg. Hätte ein anderer Musikverleger dem jungen Komponisten angesichts dessen die Stange gehalten? Tatsächlich meldeten sich im Beirat der Firma skeptische Stimmen, doch Giulio Ricordi hielt eisern an Puccini fest und unterstützte ihn unbeirrt. Und der Überraschungserfolg von „Manon Lescaut“, Puccinis dritter Oper, sollte dem Mailänder Musikverleger mit dem legendären Gespür für musikalische Talente recht geben. Auf „Manon Lescaut“ folgte eine ganze Serie von Erfolgsopern: „Bohème“, „Tosca“ und „Madama Butterfly“. Letztere fiel bei der Premiere durch, wurde aber nach der Überarbeitung zu einem Dauerbrenner.

Der volle Titel der Ausstellung lautet „Opera Meets New Media. Puccini, Ricordi und der Aufstieg der modernen Unterhaltungsindustrie“. Warum dieser Schwerpunkt?

In den zehn Jahren als Direktor des Archivio Storico, als dieses noch zum Verlagshaus gehörte, aber auch schon in den Jahren zuvor, als ich das Archiv zu Forschungszwecken nutzen konnte, wurde mir klar, dass die dortigen Bestände thematisch weit über den engeren Bereich der Musikgeschichte hinaus gingen. Neben klassischen Bereichen wie Partituren, Libretti, Briefwechseln mit Komponisten und Bühnenentwürfen umfasst es nämlich auch einen großen Bestand an Geschäftskorrespondenz, Material zu einzelnen Opernproduktionen, Gesprächsnotizen der Verwaltung, Verträge und nicht zuletzt vieles, das mit Werbung und Öffentlichkeitsarbeit zusammenhängt. Forschungsmaterial also, das nicht nur für Musikwissenschaftler interessant, sondern auch firmen-, branchen- und allgemein kulturgeschichtlich wichtig sein dürfte. Als Puccini-Forscher war ich gleichzeitig fasziniert, wie die Figur dieses Komponisten des Fin-de-siècle in die Welt des 20. nicht weniger als in die des späten 19. Jahrhunderts gehörte. Und wie sehr die „technische Revolution“ jener Jahre doch der digitalen Revolution der Gegenwart ähnelt, nicht zuletzt in ihren Auswirkungen auf den traditionellen Musikmarkt. Das Archivio Storico Ricordi bietet zu vielen dieser aktuellen Themen ein einzigartiges Forschungsumfeld.

Seit wann waren sich ein Verlagshaus wie Ricordi und Komponisten wie Puccini der Möglichkeiten bewusst, die die neuen Medien Schallplatte und Film boten?

Die Popularität und der wirtschaftliche Erfolg, die diese Technologien im 20. Jahrhundert erlangten, ebenso wie ihre rasche Weiterentwicklung, bedeuteten ein zweischneidiges Schwert für die Musikverlage. Wie bei miteinander konkurrierenden neuartigen Techniken üblich, bestand die Gefahr, aufs falsche Pferd zu setzen und viel Geld in eine Entwicklung zu investieren, die sich später als wenig lukrativ erweisen könnte. Zum Beispiel galten Notenrollen für elektrisches Klavier zu Beginn des Jahrhunderts noch als ernstzunehmende Konkurrenz zur Schallplatte, und Ricordi plante beachtliche Investitionen in dieses Medium. Doch der Markt spielte nicht mit, und der Verlag konnte von Glück sagen, seine Pläne in diesem Bereich rechtzeitig ad acta gelegt zu haben. Auf der anderen Seite waren da die Schallplattenaufnahmen berühmter Opernsolisten. Ricordi sah darin zunächst eine Bedrohung seines Kerngeschäfts, des Verkaufs von Partituren. Tatsächlich erwies sich die Schallplatte aber als äußerst wirksames Werbemittel, das der Oper eine neue Hörerschaft erschloss.

Ließ sich Puccini in seiner Arbeit als Komponist ebenfalls von den neuen Medien beeinflussen?

Anfangs waren es diese Medien selbst, die sich von der Oper beeinflussen ließen. Das frühe Kino etwa übernahm die Bühnensprache der Oper, die, verglichen mit dem Sprechtheater, brauchbarere Muster für die Choreografie von Massenszenen zu bieten hatte. Anders als andere Komponisten seiner Zeit hat Puccini nie Filmmusik geschrieben, und nur ein einziges Mal erhielt er den Auftrag zu einem Stück für eine Platteneinspielung. Dennoch übte das immer wichtiger werdende Kino eine große Anziehungskraft auf die Künstler seiner Generation aus. Einer von Puccinis Librettisten führte zum Beispiel den Titel „Drehbuchautor“ mit sichtlichem Stolz unter seinen Tätigkeiten auf, und Puccini selbst sah in der Partitur zu seinem Einakter „Tabarro“ „Straßenlärm“ samt Autohupe vor, möglicherweise in Anlehnung an die live gespielten Geräuscheffekte, wie sie in vielen Lichtspielhäusern vor Einführung synchron gespielter Filmmusiken erklangen.

Bargen die neuen Medien der damaligen Zeit auch Risiken für Verleger und Künstler?

Ganz gewiss, und mehr als nur in einer Hinsicht! Da waren zunächst drohende Einkommenseinbußen: Kino und Schallplatte boten preiswerte Alternativen zum Besuch einer Opernaufführung, und Ricordi verdiente gut am Kartenverkauf seiner Opern. Auch gab es keine klar definierten Schutzbestimmungen beziehungsweise keine effektiven Kontrollmechanismen, um die unberechtigte Nutzung von Musik durch die „beliebig reproduzierbaren“ neuen Medienformate zu verhindern. Um dieser Gefahr zu begegnen, mussten solche Richtlinien und Kontrollmöglichkeiten für die Nutzung des geistigen Eigentums an den Kompositionen, deren Rechte beim Verlag lagen, erst noch entwickelt und festgeschrieben werden. Und damals wie heute hinkte die Gesetzgebung der technischen Entwicklung weit hinterher.

Welche Rolle spielten Urheberrechtsfragen im Zusammenhang der neuen Medien?

Die Gesetzeslage zum Schutz geistigen Eigentums war damals in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Die neuen Medien Schallplatte und Film besaßen in Nordamerika größere Bedeutung als in Europa, aber der Schutz des Urheberrechts für Puccini und seine Verleger war dort sehr viel geringer. Die Vereinigten Staaten verfolgten im 19. Jahrhundert lange eine sozusagen isolationistische Urheberrechtspolitik und gestatteten, zum Leidwesen der Autoren in Europa, ihren Verlagen den unbegrenzten Nachdruck ausländischer Bücher. Dort jedoch unterlagen schon in Puccinis frühen Schaffensjahren alle Formen öffentlicher Aufführung dem Urheberrecht und wurden entsprechend vergütet, wozu in den einzelnen Ländern eigene Verwertungsgesellschaften mit dem Einzug der Tantiemen betraut wurden. Es war ein zufälliger Gedankenaustausch zwischen Puccini und einem amerikanischen Operettenkomponisten in New York, der zur Gründung einer solchen Verwertungsgesellschaft auch in den USA Anlass geben sollte. Schon einige Jahre zuvor war in einer amerikanischen Zeitung ein offener Brief Puccinis abgedruckt worden, in dem dieser sich darüber beklagte, dass Opernsänger für die Aufnahme seiner Arien großzügige Honorare und obendrein noch Tantiemen, er selbst als Komponist aber keinen Cent erhielt. Die Firmen, die mit den neuen Medien ihr Geld verdienten, stemmten sich gegen die Anerkennung von Musikkompositionen als geistiges Eigentum und eines entsprechenden Rechts auf angemessene Vergütung. Die Musikverleger mussten lange darum kämpfen, selbst in Italien wurde erst nach Puccinis Tod eine Gesellschaft zum Schutz „Mechanischer Reproduktionsrechte“ ins Leben gerufen.

In der Ausstellung wird dem „Avalon-Fall“ besondere Aufmerksamkeit gewidmet, worum genau ging es dabei?

Plagiate waren immer schon ein Problem für Verleger und Autoren. Im Musikbereich ging es dabei aber zunächst vor allem darum, für einen Nachdruck oder eine Aufführung an den Komponisten und seinen Verlag kein Honorar zahlen zu müssen, was natürlich deren Einkommen erheblich schmälerte. Außerdem hatte es immer einen Markt für Transkriptionen und Arrangements von Opernmelodien gegeben, die oft selbst hohes künstlerisches Niveau besaßen, man denke an Liszts Klavierfantasien nach Themen aus Donizetti-Opern. Anfang des 20. Jahrhunderts kam aber ein neues Phänomen dazu: die Populärmusik, ein äußerst lukratives Geschäftsfeld. 1892 etwa wurde einmal ein einziges Musikstück zwei Millionen Mal verkauft – Absatzzahlen wie diese hatte es im Bereich der klassischen Musik nie gegeben. Opernthemen für Popmelodien zu kopieren, stellte also einen bedeutenden wirtschaftlichen Anreiz dar. Ein bekanntes Beispiel ist der Jazzhit „Avalon“, dessen Komponisten 1920 erfolgreich in den USA von Ricordi verklagt wurden. Bei solchen Schlageradaptionen, etwa dem ebenfalls in der Ausstellung vertretenen Song „Cho-Cho-San“, konnte ein Komponist durchaus auf den Gedanken kommen, auf Rufschädigung beziehungsweise Verletzung seines intellektuellen Eigentums zu klagen.

In den 1920er-Jahren agierte das Verlagshaus Ricordi bereits auf internationaler Bühne. Was bedeutete das für die Verbreitung von Puccinis Opernwerk?

Schon Ende des 19. Jahrhunderts war Ricordi zu einem der weltweit wichtigsten Player im Musikverlagswesen aufgestiegen, und selbst in der „New York Times“ war man voll des Lobes über den wirtschaftlichen Erfolg der Casa Ricordi. Jahrzehntelang dominierte die italienische Oper, also das Kerngeschäft der Casa Ricordi, die Spielpläne der Opernhäuser auf der ganzen Welt. Ricordis Marktmacht im Verein mit der gekonnten Werbestrategie des Mailänder Musikverlagshauses verhalfen Puccini deshalb nicht nur zum Status eines der am meisten gespielten Opernkomponisten, sondern machten ihn auch zu einem der bestbezahlten Komponisten klassischer Musik seiner Zeit.

Erzählen Sie uns noch etwas über „Opera Meets New Media“. Wie lange hat es von der ersten Idee bis zur fertigen Ausstellung gedauert?

Das erste Mal, dass ich meine Idee zu einer Ausstellung, noch unter dem Arbeitstitel „Twentieth Century Puccini“, zur Sprache brachte, war im November 2019 bei einem Arbeitsessen in der Morgan Library anlässlich der Eröffnung unserer erfolgreichen Ausstellung „Enterprise of Opera“ dort. Nach Gesprächen mit meinen Kollegen vom Archivio Storico und mit Bertelsmann legte ich dann im Dezember 2021 ein erstes Exposee vor. Ein derart komplexes Thema kann natürlich in sehr verschiedene Richtungen entwickelt werden, und so prüften und verwarfen wir im Verlauf des Jahres 2022 diverse Einzelthemen. Die endgültige Konzeption lag dann im Frühjahr 2023 vor. Danach begannen wir, Texte zu schreiben und bei anderen Autoren in Auftrag zu geben. Wir sammelten Material, machten uns über die Ausstellungsarchitektur Gedanken etc. Im Ganzen hat der Prozess, der schließlich zu der Ausstellung geführt hat, die wir heute vor uns haben, ein gutes Jahr in Anspruch genommen – ein intensiver und kreativer Arbeitsprozess, an dem viele Akteure und Experten beteiligt waren. 

Was ist für Sie das wichtigste Exponat der Ausstellung und warum?

Alle Bereiche der Ausstellung – Schallplatte, Film, Werbung, der Kampf um das Urheberrecht – haben ihre eigene Faszination. Manches, was in der Ausstellung gezeigt und wie es gezeigt wird, ist auch für Puccini-Spezialisten neu. Aber wenn ich ein Stück auswählen sollte, dann würde ich eines wählen, in dem sein kompositorisches Schaffen geradezu hautnah erfahrbar wird: die Auswahl von Puccinis Notenentwürfen zum unvollendeten Finale von „Turandot“. Sie wurden bisher noch nie öffentlich ausgestellt, das allein macht sie zu etwas sehr Besonderem. Musikwissenschaftler werden über ihre Komplexität staunen; Komponisten wird das scheinbare Notenchaos, in Erinnerung an ihre eigenen „nur für den Eigenbedarf“ bestimmten Skizzen, ein Lächeln entlocken. Aber ich glaube, keinen Besucher wird der Blick auf die allerletzten Spuren aus dem Schaffensprozess eines großen Komponisten unberührt lassen.

„Turandot“, Puccinis letzte Oper, spielt in der Ausstellung eine besondere Rolle. Warum?

„Turandot“ markiert einen musikgeschichtlichen Meilenstein. Zum einen, weil Ricordi entschied, das Werk zu Ende schreiben zu lassen und nicht im „unvollendeten“ Zustand auf die Bühne zu bringen, denn man wollte im Verlag der auf eine jahrelange Zusammenarbeit gründenden Verantwortung für Puccinis Erbe gerecht werden. Ein Meilenstein war „Turandot“ aber auch für die Operngeschichte – auch wenn das den Zeitgenossen sicher nicht bewusst war. Von Kritik und Forschung wird „Turandot“ heute als letztes Meisterwerk jener „Großen Operntradition“ angesehen, die mit Rossinis „Barbier von Sevilla“ 1816 ihren Anfang nahm. Über ein Jahrhundert lang dominierte die italienische Oper das europäische Musiktheater und das Musiktheater weltweit.

Kommt in der Ausstellung auch die Privatperson Puccini zu Wort? Lässt sich sein musikalisches Gesamtwerk ohne den Menschen dahinter überhaupt begreifen?

Nur ganz am Rande in einigen Filmausschnitten. Trotzdem erfährt man natürlich vieles über Puccinis künstlerische Ansichten als Opernkomponist. In einer Ausstellung, die sich derart breit gefächert mit dem Einfluss der neuen Medien auf Musik und Musikindustrie jener Jahre auseinandersetzt, wollten wir nicht Puccinis Privatleben in den Mittelpunkt rücken. Der Privatmensch Puccini kommt allerdings im Themenbereich Markenbildung zum Vorschein. Dort spielte das Bild des Menschen Puccini eine zentrale Rolle, denn es diente Ricordi als bewusst lanciertes Image, mit dem seine Musik beworben und mit dem – wie wir heute sagen würden – seine „fan base“ vergrößert werden sollte. Im Ricordi-Archiv befinden sich zahlreiche Stücke, die Puccinis enges Verhältnis zu seinem Verleger Giulio Ricordi belegen, der für den Komponisten eine Art Vaterfigur war, nicht zuletzt auch Briefe, die manche Seite von Puccinis Privatleben berühren. Dieses Material wird sicher einmal Grundlage für neue Ausstellungen, Aufsätze und Bücher sein, die sich mit dem Menschen Puccini beschäftigen werden.

Aktuelle Debatten um Operninszenierungen entzünden sich oft an der stereotypen Darstellung bestimmter Bühnenfiguren. Wie sind Puccini und die Casa Ricordi seinerzeit mit diesen Stereotypen umgegangen? Sind Inszenierungen von damals heute noch aufführbar?

Aus heutiger Perspektive wirkt vieles eindeutig. Aber war Europäern der Jahrhundertwende bewusst, dass es sich dabei um Stereotype handelte oder dass bestimmte Formen der Faszination für eine fremde Kultur wie beispielsweise der Japonismus, einer Verkennung und Missachtung dieser Kulturen gleichkam? Puccini, um nur ein Beispiel zu nennen, legte großen Wert darauf, authentisch chinesische Musik, die er sich eigens besorgt hatte, in seine Komposition einzuflechten. Dennoch ist seine Oper natürlich nicht als historisch korrekte Schilderung der chinesischen Kultur zu verstehen, sondern eher als eine Art Märchen, das in einem imaginären exotischen „China“ spielt – samt einem Figurenrepertoire, das in Teilen aus der Tradition der italienischen Commedia dell’Arte stammte! Im Fall von „Madama Butterfly“ wurde das gebrochene Englisch, das die literarischen Vorlagen den japanischen Figuren in den Mund legten, von Puccini und seinen Librettisten nicht in die Opernhandlung übernommen.
Ungeachtet dessen ist es wichtig, berechtigte Bedenken gegenüber der Art und Weise, wie japanische und chinesische Figuren oder Native Americans in Puccinis Opern dargestellt werden, ernst zu nehmen. Den Kuratoren der Ausstellung liegt es fern zu behaupten, Puccini und seine Opern seien über derartige Kritik erhaben. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass die Position des Komponisten in diesen Fragen in den meisten Fällen darauf zielen, die Menschlichkeit und menschliche Würde aller seiner Figuren zu betonen, egal aus welcher Kultur sie stammen. Die Originalinszenierungen seiner Stücke mögen uns heute zu Recht kulturell unsensibel vorkommen, aber die moderne Opernregie hat ja die Freiheit, sich anderer Darstellungsformen und Bilder zu bedienen.

In der Fachwelt gibt es schon länger eine Diskussion um die Frage, wie nahe der 1924 verstorbene Puccini dem italienischen Faschismus gestanden hat. Wie verhält sich die Ausstellung dazu?

Auch hier sollte man sich davor hüten, heutige Einstellungen und Erkenntnisse auf ein Denken und eine Situation zu projizieren, die einhundert Jahre in der Vergangenheit liegen. Wichtig ist zum Beispiel, daran zu erinnern, dass Puccini nie einen Antrag auf Aufnahme in die Partei gestellt hat, sondern ihm die Parteimitgliedschaft ehrenhalber verliehen wurde. Erst nach dem Tod des Komponisten behauptete Mussolini das Gegenteil, um politischen Gewinn daraus zu schlagen. Wenn Puccini die Ehrenmitgliedschaft nicht ablehnte, dann wohl auch, weil er hoffte, Mussolini davon überzeugen zu können, ein eigenes Nationaltheater für die Oper zu gründen. Man muss auch bedenken, dass die faschistische Partei von 1924 noch nicht die von 1925 und danach war; erst Monate nach Puccinis Tod erhielt Mussolini diktatorische Vollmachten und errichtete in Italien ein totalitäres System. In den allerersten Jahren hielten viele in Italien den Faschismus für die politische Bewegung, die im politischen Chaos der Nachkriegszeit Stabilität verhieß. Sogar Arturo Toscanini war anfangs ein Anhänger der Faschismus; später wandelte er sich jedoch angesichts der Richtung, die dieser nahm, zum überzeugten Antifaschisten. Deshalb blieb Mussolini ja auch der postumen, von Toscanini geleiteten Premiere von „Turandot“ 1926 ostentativ fern. Ob auch Puccini sich, hätte er einige Jahre länger gelebt, ebenso unmissverständlich vom Faschismus und allem, für das dieser damals stand, distanziert hätte, wie Toscanini es getan hat – diese Frage überlasse ich denen, die gerne Fragen eines „Was wäre gewesen, wenn ...“ nachgehen.

Gabriele Dotto, Forschungsdirektor am Archivio Storico Ricordi, blickt auf eine lange Karriere im Musikverlagswesen – Cheflektor, später Verlagsleiter der Casa Ricordi und Direktor des Historischen Archivs – und als musikwissenschaftlicher Buchautor zurück. In seiner Veröffentlichungs- und Lehrtätigkeit hat er sich eingehend mit der italienischen Oper beschäftigt und Ausstellungen zu diesem Thema in Mailand, Berlin, Brüssel und New York kuratiert. Dotto zeichnet, gemeinsam mit Roger Parker, für die kritische Edition der Opern Donizettis verantwortlich und bereitet aktuell kritische Editionen von Verdis „Fallstaff“ und Puccinis „Madama Butterfly“ vor.