„Die Liebe hat diesen Kampf gewonnen“
Der weltbekannte Buchautor Salman Rushdie stellte gestern sein weltweit in Verlagen von Penguin Random House erschienenes Buch „Knife“ vor rund 600 Gästen im Deutschen Theater in Berlin vor – die einzige Veranstaltung dieser Art in Deutschland. Es war ein beeindruckendes Plädoyer für die Freiheit des Wortes und die Macht der Liebe.
Der aus Indien stammende, in England aufgewachsene und seit dem Jahr 2000 in New York lebende Salman Rushdie gehört zu den bekanntesten Schriftstellern unserer Zeit – was zum einen an seinen ebenso ungewöhnlichen wie vielfach ausgezeichneten und in mehr als 40 Sprachen übersetzten Werken liegt. Zum anderen verdankt er seine langjährige Berühmtheit seinem Buch „Die satanischen Verse“ und dem daraufhin wegen mutmaßlicher Beleidigung des Propheten Mohammed 1989 durch den damaligen iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini ausgesprochenen Todesurteil, einer sogenannten Fatwa – und einem beinahe tödlichen Messer-Attentat auf ihn im Sommer 2022. Rushdie überlebte knapp und wird im kommenden Monat, genauer: am 19. Juni, 77 Jahre alt. Dass er sich derzeit auf einer internationalen Lesereise zu seinem neuen Buch befindet, gleicht auch aus seiner persönlichen Sicht einem Wunder. Aber Rushdie wäre nicht Rushdie, wenn er auch nach diesem Anschlag nicht an seinem Willen festgehalten hätte, seinen Beruf auszuüben, Geschichten über Menschen zu schreiben, die Welt teilhaben zu lassen an seinen Gedanken über die Welt im Allgemeinen und in diesem Fall auch über sein eigenes Schicksal im Besonderen. In „Knife – Gedanken nach einem Mordversuch“, weltweit in verschiedenen Sprachen in Verlagen von Penguin Random House erschienen, in Deutschland bei Penguin, schildert er zum ersten Mal und in eindrücklichen Details die traumatischen Ereignisse des Attentats und seine Folgen. Gestern stellte er im Gespräch mit den Literaturagenten Marie Kaiser und Thomas Böhm das Buch vor rund 600 Gästen im Deutschen Theater in Berlin vor – eine Kooperation von Bertelsmann und seinem Literaturformat „Das Blaues Sofa“ mit dem internationalen Literaturfestival Berlin, dem Deutschen Theater Berlin und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die einzige öffentliche Veranstaltung zum Erscheinen seines Buches in Deutschland. Sie wurde live von den RBB-Stationen Radioeins und Radio 3 übertragen. Der bekannte Schauspieler Ulrich Matthes, Ensemblemitglied des Deutschen Theaters, trug mit bewegender Intonation Passagen aus dem Buch vor. Anwesend waren auch Rushdies Ehefrau, Rachel Eliza Griffiths, die ebenfalls als Buchautorin arbeitet und deren neues Werk, „Was ihr uns versprochen habt“, am 18. September bei Penguin erscheinen wird, sowie Rushdies langjähriger Deutsch-Übersetzer, Bernhard Robben.
Was darf ein Autor schreiben?
Hannes Swoboda und Maria Maltschnig vom Karl-Renner-Institut übergaben Salman Rushdie (M.) vor der Veranstaltung in der Bertelsmann-Repräsentanz den Bruno-Kreisky-Preis für sein publizistisches Gesamtwerk, den er 2022 gewonnen hatte, aber aufgrund des Attentats nicht entgegennehmen konnte.
Wüsste man nicht die erschreckende Realität hinter dem Buch, wären die hohen Sicherheitsmaßnahmen nicht gewesen und trüge der berühmte Autor nicht, wie auch auf dem Innenteil des Buchumschlags von „Knife“ zu sehen, eine Brille, deren rechtes Glas undurchsichtig dunkel getönt ist, hätte es ein vergleichsweise normaler Diskussionsabend sein können, zu dem sich die vielen Literaturfreund:innen im Deutschen Theater eingefunden hatten, unter ihnen auch Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir. Doch natürlich war es aus oben genannten Gründen kein normaler Diskussionsabend, aber auch deswegen, weil es um ein sehr grundsätzliches Thema ging, wie Salman Rushdie im Laufe des Gesprächs betonte: um die Freiheit des Wortes. Was darf ein Autor schreiben, ohne bedroht oder gleich um sein Leben fürchten zu müssen? Rushdie hat in seinen 15 Romanen und einem Erzählband schon immer klar Position bezogen, mal auf subtile Weise, mal explizit im Kampf für die Meinungsfreiheit. Und obwohl er an jenem 22. August im Jahr 2022 direkt vor Beginn einer Diskussionsveranstaltung in Chautauquas im US-Bundesstaat New York, bei der es ausgerechnet um die Sicherheit und die Schutzmöglichkeiten für Schriftsteller ging, von einem dunkel maskierten Angreifer innerhalb von 27 Sekunden mit 15 Messerstichen auf der Bühne niedergestreckt wurde, obwohl seine Überlebenswahrscheinlichkeit gering und er nur noch kaum bei Sinnen war, fasste Salman Rushdie, am Boden liegend, auch in dieser Situation den Beschluss: „Lebe!“ Es sollte weitergehen, er wollte nicht aufgeben, war nicht bereit zu sterben. – Dieses erste Kapitel aus „Knife“, intensiv vorgetragen von Ulrich Matthes, steckte den Rahmen für den weiteren Abend.
Und auf den hatte sich Rushdie nach eigenem Bekunden sehr gefreut. Er wolle Versäumtes nachholen – wegen des Attentats konnte er nach der Veröffentlichung seines vorigen Buches „Victory City“ nicht mehr in Kontakt mit Leser:innen kommen. „Das hat mich schon frustriert. Doch jetzt bin ich wieder da“, sagte er und gab im Folgenden bereitwillig Auskunft zu den Fragen der Moderatoren oder führte manche Anekdoten aus, die im Buch erwähnt werden. Mit klarer, freundlicher Stimme und mit seinem angenehmen englischen Akzent schilderte er zum Beispiel seine Gedanken, die ihm während des Attentats durch den Kopf gingen („Warum heute? Warum jetzt nach all den Jahren, die seit der Fatwa ins Land gegangen sind?“) und warum er sich gefühlt habe, als sei er in die Vergangenheit zurückgereist. Ebenso kamen seine Überlegungen zum Attentäter zu Wort: „Er war noch nicht einmal geboren, als ‚Die Satanische Verse‘ erschienen, und er hat nichts von mir gewusst – eine schwache Motivation für einen Mordversuch, die mir mein Lektor in einem Buchskript niemals hätte durchgehen lassen.“ Seinen Namen wollte der Autor keinesfalls in seinem Buch gedruckt sehen – „es ist mein Buch“ –, stattdessen nannte er ihn A. Für Attentäter oder noch ein anderes Wort. Er erzählte von den vielen Tagen der Genesung in den Krankenhäusern und von „Dr. Auge“ und „Dr. Leber“, blickte zurück in die Vergangenheit, als er seine jetzige Frau kennengelernte, indem er auf einer Dachterrasse gegen eine Glastür lief und sie sich um ihn kümmerte, von seinem Glauben an medizinische Wunder, wie er eines gewesen sei, nicht aber an göttliche Wunder, und dann wieder von der Bedeutung der Literatur: „Menschen sind nicht eindimensional, sie sind widersprüchlich und ambivalent. Bücher zeigen solche Menschen. Lesen kann also dabei helfen, dass Menschen mehr Verständnis füreinander haben“, stellte Salman Rushdie fest.
Ein Gefühl des Triumphs
Dabei war es seine unnachahmliche Art, die diesem gestrigen Abend trotz aller Schrecken, um die es ging, immer wieder auch etwas geradezu Heiteres gaben. Natürlich entstanden angesichts der Fragen und der präzisen Schilderungen in den zitierten Kapiteln bedrohliche Bilder im Kopf der Theatergäste. Doch sind diese Schilderungen selbst oftmals so surreal bis sarkastisch formuliert, zudem antwortete der Befragte auch immer wieder mit viel Ironie, so dass dieser Humor seinerseits zum Thema wurde. Und klar wurde damit sehr schnell: Salman Rushdie hat „Knife“ geschrieben, um zurückzuschlagen, um seine Mittel gegen die Gewalt einzusetzen, die ihm widerfahren ist: Worte. Worte als Waffe, darin habe er schließlich ein halbes Jahrhundert lang Übung, betonte Rushdie. Darum der Buchtitel. Der stehe nicht für das Messer, das ihn beinahe getötet hätte, sondern für sein Messer der Worte. Absichtlich hat er sein Buch in zwei Teile aufgeteilt: „Der Engel des Todes“ und „Der Engel des Lebens“ – mit optimistischem Ausgang also. Es geht um Tod und Leben, um Hass und Liebe. Liebe in seinem Fall vor allem seiner Frau Eliza gegenüber, die sich liebe- und aufopferungsvoll um ihn kümmerte, sowie zu seinen Kindern. „Die Liebe hat gewonnen“, zog Rushdie merklich in sich ruhend und zufrieden das Fazit des Erlebten und des in Buchform Verarbeiteten. Wie es sich auch im letzten Buchkapitel widerspiegelt: Da empfindet Salman Rushdie, als er nach seiner Genesung mit seiner Frau Eliza nach Chautauquas zurückkehrt, Erleichterung, ja, Triumph. Der Kreis hat sich geschlossen, er ist am Leben. Seine Wortgewalt, sein Humor, seine Ironie, sein Sarkasmus sind ihm geblieben. Die Welt kann dankbar über einen solchen Menschen sein, der auch mit fast 77 Jahren nicht ans Aufhören denkt. Eine Geschichte über Geister habe er begonnen, über sie habe er noch nie geschrieben, 65 Seiten seien schon fertig. Das Berliner Publikum dankte Salman Rushdie und verabschiedete ihn sowie seine „deutsche Stimme“ Ulrich Matthes und das Moderationsduo mit stehenden Ovationen und lang anhaltendem Applaus.