News

News | Gütersloh/ London, 31.05.2016

„Dank der EU ist Großbritannien heute ein kreatives Powerhouse“

Interview mit Baroness Gail Rebuck

Ob als Verlegerin oder Kreative, als Unternehmerin oder Mitglied des Oberhauses – die Stimme von Gail Rebuck hat in Großbritannien Gewicht. Sie wird gehört, weit über die literarische Welt hinaus. 1982 gründete sie einen Verlag. 1985 wurde sie Verlegerin von Century Hutchinson, 1991 von Random House UK. 1998 übernahm sie die Führung der Random House Group UK. Seit 2012 ist sie Mitglied des Bertelsmann Group Management Committee (GMC), seit 2013 Chair des Penguin Random House UK Board.

Im Sommer 2014 wurde Baroness Gail Rebuck in das House of Lords berufen. Sie habe, erklärte sie damals, „Politik und Parlament immer als treibende Kraft gesehen, die unser Leben auf nationaler und globaler Ebene bestimmen“. Derzeit wird diese Politik in ihrer Heimat von keinem Thema so sehr bestimmt wie vom möglichen Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union, dem Brexit. Im Interview mit dem BENET zum heutigen Thementag Großbritannien äußert sich Gail Rebuck auch, aber nicht nur, zu diesem Thema.

Frau Rebuck, Sie vertreten im GMC Großbritannien, einen der wichtigsten und traditionsreichsten Märkte von Bertelsmann. Wie stellt sich die aktuelle Lage der Bertelsmann-Geschäfte im Vereinigten Königreich aus Ihrer Sicht dar und wie bedeutend ist Großbritannien gerade als überaus kreatives Land für Bertelsmann?

Gail Rebuck: Die Kreativbranche setzt im UK jährlich 84 Milliarden Pfund um und wächst doppelt so schnell wie die übrige Wirtschaft. Die Verlagsindustrie steuert dazu zehn Milliarden Pfund bei, allein die Buchverlage fünf. Aber diese Zahlen sagen noch nichts über den Beitrag aus, den britische Autoren und Bücher für die kreative Wirtschaft im weiteren Sinne leisten. So basieren allein drei der größten Filmerfolge der Welt auf Büchern britischer Autoren: „Der Herr der Ringe“, „James Bond“ und „Harry Potter“. Andere Bücher liefern geradezu endlosen Stoff für TV-Serien, beispielsweise John Le Carrés „The Night Manager“. 

Nun zu unseren Kreativ-Geschäften: Penguin Random House ist der mit Abstand größte Publikumsverlag in Großbritannien – mit rund 4.000 neuen Titeln pro Jahr und mit einem starken Fokus auf dem Export. Auch im globalen Produktionsgeschäft von Fremantle Media spielt Großbritannien eine Schlüsselrolle als Ursprungs- und Heimat-Markt einiger der populärsten und profitabelsten TV-Formate wie „Idols“, „X-Factor“ oder „The Farmer Wants a Wife“. Das Musikgeschäft von BMG wächst Jahr für Jahr und sorgt in der Branche für großes Aufsehen. Arvato entwickelt sich gut in einer florierenden Dienstleistungsindustrie, die Bertelsmann Printing Group ist ebenso fest im UK verankert.

Darüber hinaus ist Großbritannien ein Zentrum unserer Wachstumsplattformen, auf Bertelsmann-Ebene für BMG und die Education Group, auf Bereichsebene für Stylehaul und SpotX. Alles in allem ist Großbritannien mit einem Umsatz von 1,7 Milliarden Euro und vielen tausend Mitarbeitern das viertgrößte Bertelsmann-Land. Seit 2011 sind unsere Geschäfte hierzulande jährlich um zehn Prozent gewachsen. Die Inhalte-Geschäfte machen drei Viertel des Bertelsmann-Portfolios im Lande aus. Das ist einer höchsten Anteile in der Bertelsmann-Welt. 

In den jüngsten Bertelsmann-Landeskoordinations-Meetings für Großbritannien war ein möglicher Brexit wiederholt Thema. Wie würden Sie das Stimmungsbild unter den Geschäftsführern im Angesicht des möglichen Brexit beschreiben? 

Gail Rebuck: Während unseres jüngsten Treffens in London haben die Kollegen von Arvato das Thema Brexit auf den Tisch gebracht, als sie nach der Bertelsmann-Position hierzu fragten. Aus der Sicht von Arvato selbst nämlich gilt: Die Services, die das Unternehmen in Großbritannien anbietet, sind oft Europa-weit angelegt. So brauchen die Call-Center mehrsprachige Mitarbeiter. Sie profitieren von einer europäischen Belegschaft, die sich frei zwischen den Ländern bewegen kann.

Auch herrschte der Eindruck, dass es für Großbritannien ungleich schwieriger werden könnte, attraktive globale Dienstleistungen an sich zu ziehen, wenn das Land als zunehmend isolationistisch betrachtet würde. Natürlich ist das Referendum im UK am 23. Juni eine individuelle Entscheidung jedes wahlberechtigten britischen Bürgers. Aber die Verantwortlichen der Bertelsmann-Geschäfte haben im Landeskoordinationstreffen für Großbritannien übereinstimmend den Wunsch geäußert, dass das Land aus einer Vielzahl strategischer und kommerzieller Gründe Teil der Europäischen Union bleiben möge. 

Wie könnte sich ein möglicher Brexit denn kurz- und langfristig auf die Medien-, Kreativ- und Dienstleistungsindustrie im UK allgemein auswirken? 

Gail Rebuck: Auch dank der Hilfe der EU ist Großbritannien zu dem kreativen Powerhouse geworden, das es heute ist. Denn zum einen fördert die EU kreative Industrien finanziell. Zum anderen hat die Möglichkeit des freien Austauschs und Handels mit 27 anderen Ländern unsere Kultur-Exporte über Jahrzehnte hinweg befeuert  und britische Künstler in die Lage versetzt, über Grenzen hinweg zu arbeiten. Die britische Kreativbranche beschäftigt zwei Millionen Menschen. Sie alle sind darauf angewiesen, dass diese Branche wächst und gedeiht. Ein anderes Beispiel: An britischen Universitäten studieren 125.000 Studentinnen und Studenten aus der Europäischen Union, 15 Prozent der Dozenten stammen aus den Ländern der Gemeinschaft. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur britischen Wirtschaft und Kultur, aber sie sind zugleich eine zentrale Quelle für neue Talente. Schließlich, und das ist das Wichtigste, schützen die Gesetze der EU die Urheberrechte all der Autoren, Musikern und Kreativschaffenden, die so unverzichtbar sind für das Geschäft von Bertelsmann. Mag es dort ab und zu Meinungsverschiedenheiten geben, so bin ich dennoch davon überzeugt, dass es für Großbritannien besser ist, auch in Zukunft einen Sitz an dem Tisch zu haben, an dem die Politik gemacht wird. 

Welche konkreten Folgen könnte ein Brexit für die Bertelsmann-Geschäfte im UK haben? 

Gail Rebuck: Das größte Problem liegt wohl darin, dass wir genau das nicht sagen können, weil niemand wirklich weiß, wie ein „out“ aussehen könnte. Das ist übrigens einer der Gründe, weswegen ich das Risiko eines Austritts für zu groß halte. Derzeit haben wir ungehinderten Zugang zum gemeinsamen Markt der EU mit seinen 500 Millionen Verbrauchern. Und wir kennen die Mechanismen dieses Marktes. Das heißt, wir können sicherstellen, dass die Regeln für unsere Unternehmen, für die britische Wirtschaft und für diejenige der EU funktionieren.

Es gibt alternative Modelle für den einheitlichen Zugang Großbritanniens zum europäischen Markt im Falle eines Austritts, aber keines von ihnen ist so gut wie der Deal, den wir heute haben. Wenn Großbritannien austritt, verlieren wir den Zugang zur EU-Förderung für Universitäten und Künste. Ich befürchte, dass wir dann weniger talentierte Menschen haben werden, die eine Karriere in der Fernsehproduktion oder dem Verlagswesen, in der Musik- oder der Bildungsbranche anstreben, weil sie dann nicht mehr die finanzielle Unterstützung bekämen, die sie brauchen.

Aus einer übergeordneten wirtschaftlichen Perspektive betrachtet, leugnen weder die Gegner noch die Befürworter eines Austritts, dass er der britischen Wirtschaft einen Schlag versetzen würde. Die Frage ist eigentlich nur, wie massiv er ausfallen und wie lange er nachwirken würde – schon das nutzt keinem unserer Geschäfte. Es wäre insbesondere schlecht für unsere Outsourcing- und Solutions-Bereiche, deren Kunden von jeder Form einer Post-Brexit-Rezession betroffen wären. Aber Analysen zeigen genauso, dass auch Sender und Verlage aufgrund des zu erwartenden Rückgangs von Werbeumsätzen in Mitleidenschaft gezögen würden.

Wie schätzen Sie als Mitglied des Oberhauses die Brexit-Diskussionen im UK, aber auch in der EU derzeit allgemein ein? 

Gail Rebuck: Lassen Sie mich mit den anderen Ländern beginnen: Es ist klar, dass kein anderes EU-Mitglied sich einen britischen Austritt wünscht. Länder wie Albanien, die einen Beitritt anstreben, sind schon perplex, warum man über einen Austritt auch nur nachdenken kann. Aber die internationale Unterstützung für einen Verbleib Großbritanniens in der EU geht noch weit über deren Grenzen hinaus.

Frühere Präsidenten und Premierminister aus Ländern wie den USA, China, Australien, Japan oder Kanada, um nur einige zu nennen, haben ihre Bedenken über die Folgen eines Austritts für Großbritannien und den Rest der EU geäußert. Viele von ihnen sagen, es würde uns schlechter gehen. Und nicht zuletzt US-Präsident Obama hat bei seinem jüngsten Besuch im Vereinigten Königreich eine klare und machtvolle Botschaft für den Verbleib Großbritanniens in Europa abgegeben. 

… und in Großbritannien selbst? 

Gail Rebuck: Hier wird die EU-Debatte im Kern pragmatisch geführt. Sie basiert auf ökonomischen Argumenten. Die Führung aller drei großen politischen Parteien ist für einen Verbleib in der EU, auch wenn es natürlich abweichende Meinungen innerhalb der Parteien gibt. Das gilt besonders für die Konservativen, wo die Argumente sich eher auf die britische Souveränität und die komplexe Frage der Einwanderung fokussieren.

Die gedruckte Presse ist mehrheitlich für einen Brexit, bildet aber inzwischen beide Seiten der Debatte ab. Die Umfragen prognostizieren ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bei einem Drittel noch unentschiedener Wähler, ist das Ergebnis jedoch schwer vorherzusehen. Es trifft wohl zu, dass die britische Öffentlichkeit wiederum einerseits den wirtschaftlichen Nutzen der EU-Mitgliedschaft und des Binnenmarktes durchaus sieht, andererseits aber fürchtet, dass zu viele Entscheidungen in Brüssel gefällt werden. Vielleicht glauben die Menschen hier, dass Brüssel, wenn es weniger täte, mehr erreichen würde. Genau darum wäre es so wichtig, dass die Stimme Großbritanniens auch in Zukunft gehört wird. 

In der britischen Buch- und Verlagswelt, meinem Zuhause, haben sich laut einer Umfrage des Fachmagazins “The Bookseller” 70 Prozent der Befragten klar für einen Verbleib des Landes in der Union ausgesprochen, unter ihnen der CEO von Waterstones, unserer größten Buchhandelskette. Sein Argument: Großbritannien befindet sich heute in einer stabilen, effizienten wirtschaftlichen Situation ohne Unwägbarkeiten. Andere in unserer Branche genannte Gründe für einen Verbleib waren ein drohendes finanzielles Desaster, die Furcht vor neuen Handelshemmnissen und dem Ausbleiben direkter ausländischer Investments sowie der Verlust der Freizügigkeit für die Beschäftigten.

Wenn ich mich abschließend direkt an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen im UK wenden darf, dann mit diesem Appell: Was immer Ihre Meinung zur EU ist, gehen Sie wählen! Diese Entscheidung wird Auswirkungen auf das kommende Jahrzehnt und weit darüber hinaus haben. Und wie immer Sie abstimmen, es kommt darauf an, dass das Land zu einer Entscheidung gelangt, die Sie getroffen haben und die nicht für Sie getroffen wurde.